Das Foto zeigt Daniel Jurgeleit. Er ist Deutsch- und Englischlehrer am Staufer-Gymnasium im baden-württembergischen Pfullendorf. Media Smart hat mit ihm über „Classcraft“ gesprochen. Das ist ein Fantasy-Spiel für den Einsatz im Klassenzimmer.

Daniel Jurgeleit ist Deutsch- und Englischlehrer am Staufer-Gymnasium im baden-württembergischen Pfullendorf. Im Schuljahr 2011/2012 testete er erstmalig mit seinen Schüler*innen „Classcraft“, ein Fantasy-Spiel für den Einsatz im Klassenzimmer.

Media Smart e. V.: Sie sind der erste Lehrer in Deutschland, der das Spiel „Classcraft“ mit seinen Schüler*innen ausprobiert hat. Können Sie uns etwas zu den Hintergründen erzählen, wie Sie darauf gekommen sind und worum es dabei geht?

Jurgeleit: „Classcraft“ ist ein computergestütztes Lernspiel, das die Schüler zu Mitarbeit und Teamarbeit motivieren soll. Es enthält viele rollenspieltypische Elemente, die man aus „Das Schwarze Auge“ oder auch „World of Warcraft“ kennt. Aber mit Computerspielen hat „Classcraft“ nichts zu tun, es ist vielmehr ein kooperatives Lernspiel mit einer Punktetabelle. Die Ziele im Spiel sind Punktesammeln, Stufen aufsteigen und mehr Fähigkeiten freispielen. Die Schüler werden in feste Gruppen eingeteilt und können sich einen von drei „Berufen“ aussuchen: Krieger, Magier oder Heiler. Durch Mitarbeit, Hausaufgabenvorlesen und Teamwork sammeln die Schüler Erfahrungspunkte, mit denen sie sich bessere Fähigkeiten kaufen. Krieger können beispielsweise ihre Mitstreiter vor Schadenspunkten beschützen, falls diese die Hausaufgaben vergessen haben. Heiler kümmern sich um die Gesundheit ihrer Mitstreiter und Magier können Schutzschilde herbeizaubern oder den Manapool, das heißt die Aktionspunkte ihrer Mitstreiter auffrischen. Insgesamt stehen jeder Berufsklasse neun verschiedene Fähigkeiten zur Verfügung, die die Schüler im Laufe des Schuljahres freischalten können, vorausgesetzt, sie erspielen sich genügend Erfahrungspunkte. Das Spiel hat sich der Kanadier Shawn Young ausgedacht, der selbst Lehrer und langjähriger Rollenspieler ist. Ich las vor vier Jahren einen Artikel bei SPIEGEL ONLINE darüber und war sofort begeistert. Auf Youngs Website war zu dem Zeitpunkt das Lernspiel nur in groben Zügen mit halb fertigen Regeln vorgestellt. Nach einem kurzen E-Mail-Wechsel, um mir ein paar Tipps für den Start zu holen, testete ich es mit einer 5. Klasse zwischen den Oster- und Pfingstferien. Auch die Schüler waren sofort begeistert. Das Spiel eignet sich prinzipiell für jedes Unterrichtsfach und jede Klassenstufe, jedoch funktioniert es am besten mit kleineren Klassen mit bis zu 24 Schülern.

Media Smart e. V.: Wie läuft das Spiel im Unterricht ab?

Jurgeleit: Das Spiel wird das ganze Schuljahr über gespielt. Nachdem wir die Gruppen- und Berufseinteilung vorgenommen haben, läuft der Unterricht ein wenig anders als üblich ab. Zu Beginn einer Unterrichtsstunde schauen wir uns per Beamer und iPad-App den aktuellen Punktestand an. Es wird ein Tagesereignis ausgewürfelt. So kann es sein, dass z. B. ein Engel erscheint und einer Gruppe Lebenspunkte schenkt, oder die Schüler finden einen vergifteten Manatrank und jeder verliert Manapunkte usw. Anschließend können die Schüler ihre Spielzüge ankündigen, also ihre Mitstreiter heilen, beschützen, Aktionspunkte transferieren usw. Hier müssen sie aber auch ankündigen, wenn sie ihre Hausaufgaben oder Schulsachen vergessen haben. Dafür gibt es nämlich Schadenspunkte, aber ihre Mitstreiter können darauf reagieren, indem ein Krieger denjenigen beschützt und die Schadenspunkte einsteckt oder ein Heiler ihn heilt. Für solche kooperativen Fähigkeiten werden die Schüler auch mit Erfahrungspunkten belohnt. Diese Phase dauert etwa 5-7 Minuten. Danach läuft der Unterricht wie gehabt weiter, aber ich kann nebenher per App schnell Erfahrungspunkte verteilen für gute Schülerantworten, fürs Hausaufgabenvorlesen oder für die Präsentation der Ergebnisse einer Gruppenarbeit. Ebenso kann ich auch ganz schnell Schadenspunkte verteilen, wenn jemand z. B. den Unterricht stört. Das Spiel läuft also „nebenher“ bis zum Unterrichtsende mit. Aber auch nach dem Unterricht können die Schüler auf ihre Spielaccounts zugreifen, indem sie sich von daheim aus per Computer auf der Homepage einloggen und so entweder den einen oder anderen Spielzug machen oder sich Extra-Übungsaufgaben aus unserem Classcraft-Klassenforum herunterladen können. Als Lehrer braucht man nicht unbedingt sehr technikversiert zu sein, um das Spiel handhaben zu können, aber man sollte schon aus der Rollenspiel- oder Gamer-Ecke kommen, um das authentisch vermitteln zu können – oder man ist von dem Spiel einfach so begeistert, dass man die Schüler so mitnimmt.

Das Foto zeigt ein Ausschnitt des Fantasy-Spiels „Classcraft“. Das Spiel ist für den Einsatz im Klassenzimmer gedacht. Hier können Schüler und Schülerinnen das Schuljahr in Teams als Magier, Heiler oder Krieger bestreiten.

Media Smart e. V.: Wie haben Ihre Schüler*innen das Spiel angenommen? Welche Entwicklungen konnten Sie in Ihrer Klasse im Spielverlauf wahrnehmen?

Jurgeleit: Die Schüler waren vom Spielprinzip sofort begeistert. Von meinen Klassen, mit denen ich das Spiel bisher gespielt habe, haben in vier Klassen alle mitgespielt, sowohl Jungs als auch Mädchen, in zwei Klassen haben sich jeweils vier Mädchen nicht wirklich getraut mitzumachen. „Classcraft“ hatte sehr schnell positive Effekte auf vielen Ebenen entwickelt. 

Die Schüler rissen sich darum, Hausaufgaben vorlesen zu dürfen, verlangten nach immer mehr Extra-Aufgaben, die Gruppenarbeiten wurden schneller und effizienter erledigt, die Hausaufgabenmoral hat sich verbessert, die Störungen im Unterricht nahmen ab. Viele Schüler verbesserten sich mündlich sehr stark, schriftlich auch um 1-2 Noten, Außenseiter wurden durch die Gruppeneinteilung integriert, schüchterne Schüler blühten regelrecht auf, weil sie die Erfahrungspunkte haben wollten und einige Schüler entdeckten durch die Begeisterung für das Spiel auch die Begeisterung für die Unterrichtsinhalte, weil sie sich viel mehr mit dem Stoff beschäftigten, um bessere Ergebnisse abzuliefern und so mehr Punkte zu sammeln. Da „Classcraft“ ja kein Computerspiel im eigentlichen Sinne ist, fühlten sich alle Schüler von diesem Spiel angesprochen. Schwierigkeiten mit Schülern sind bei dem Spiel bisher nicht aufgetreten, zumindest keine, die das Spiel hervorruft. Aber das Spiel kann bestimmte Sachverhalte verdeutlichen, gerade wenn es um Antipathien und Außenseiter geht. Da das Spiel aber verlangt, sich in Gruppen zusammenzuraufen und miteinander auszukommen, wird man als Lehrer auch dazu „gezwungen“, sich mit den Problemen der Klasse näher zu befassen, Gespräche zu führen und sich um das Wohlbefinden der Außenseiter zu kümmern. Und genau das hat bisher bestens funktioniert. Schwierigkeiten vonseiten der Schüler gab es also kaum. Die kamen erst dann, als ich gezwungen war, die Elternschaft ins Boot zu holen. Als ich das Spiel zum ersten Mal mit einer Klasse gespielt habe, konnten wir es nur mithilfe einer EXCEL-Tabelle spielen, da es weder die App noch die Web-Engine gab. Und da ich das Spiel einfach als eine neue Unterrichtsmethode ansah, habe ich auch niemanden um Erlaubnis gefragt. Als dann später die computergestützten Schüler-Accounts dazukamen, musste ich einen Infobrief an die Eltern schreiben und um Erlaubnis fragen, und dann gingen die Schwierigkeiten leider erst richtig los. Einige Eltern hielten das Lernspiel – trotz eines ausführlichen Informationsbriefes – für ein Onlinerollenspiel, dann kamen Gerüchte auf, dass im Unterricht nur noch online gespielt werden würde und Ähnliches.

Media Smart e. V.: Der Name des Spiels lehnt sich offensichtlich an das berühmte Onlinerollenspiel „World of Warcraft“ an, das ja aufgrund seines Killerspiel-Images und seiner starken Faszinationskraft auf Jugendliche unter Pädagog*innen sehr umstritten ist. Wie kam es zu der Wahl des Namens? Gibt es Parallelen im Spielablauf?

Jurgeleit: Der Name war zu Beginn nur ein Gag und Arbeitstitel, da auch Shawn Young ein begeisterter World-of-Warcraft-Spieler ist. Inzwischen heißt das Lernspiel ja nur noch „Classcraft“. Ein wesentlicher Aspekt der Rollenspiele und Fantasyliteratur ist immer eine Gemeinschaft – man denke da ganz klassisch an „Herr der Ringe“ oder „Der Hobbit“ – bei der sich unterschiedliche Charaktere gegenseitig mit ihren Fähigkeiten ergänzen. Und das ist der zweite wesentliche Faktor neben der Punktejagd, der den Schülern so sehr gefällt. Man muss zusammenarbeiten, sich gegenseitig unterstützen und die Köpfe zusammenstecken, um weiterzukommen. Die Fähigkeiten, die die Schüler haben, haben direkte Auswirkungen auf ihre Mitstreiter oder den Unterricht, und genau das macht einen Teil der Motivation des Spieles aus.

Media Smart e. V.: Wo bekommt man als Lehrer*innen alle nötigen Informationen und Materialien zum Spiel? Und fallen für die Umsetzung Kosten an?

Jurgeleit: Alles Nötige zum Spiel bekommt man auf www.classcraft.com. Das Spiel gibt es in einer kostenlosen und kostenpflichtigen Variante. Bei der letzteren Version gibt es zusätzliche Gimmicks wie Haustiere und verschiedene Rüstungen, mit denen die Schüler ihre Avatare schmücken können sowie ein paar Tools für den Lehrer, um die Lernfortschritte analysieren zu können. Sie kostet 8 Euro pro Monat. An der Schule braucht man einen Beamer, Internetzugang und ein Tablet oder Laptop, um auf die Webpage zugreifen zu können.

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